Der lange Weg nach Hause

Wenn Sie mich nach meiner Schulzeit fragen, dann muss ich erst einmal tief Luft holen. Das ist lange her. Anfang der fünfziger Jahre muss es gewesen sein, 1950 oder 1951, so genau weiß man das heute ja nicht mehr. Die Jahre verschwimmen irgendwann, aber das Gefühl, das bleibt.

Die Schule war damals eine andere Welt. Strenger, kälter. Unser Lehrer hieß Herr Müller, soweit ich mich erinnere. Ein Mann, vor dem wir alle Respekt hatten – oder besser gesagt: Angst. Er hatte noch einen Rohrstock. Den trug er nicht zur Zierde mit sich herum. Wenn einer geschwatzt hat oder nicht aufgepasst hat, dann ging das ganz schnell. Ein kurzer Blick, ein Schritt nach vorne, und schon brannten die Finger. Danach hat sich keiner mehr getraut, auch nur zu atmen. Still sitzen, geradeaus schauen, Mund halten – so war das.

Schön war die Schule für mich nicht. Lernen ja, das schon. Aber Wärme, ein freundliches Wort, das gab es selten. Deshalb habe ich jeden Morgen schon auf den Moment gewartet, an dem die Glocke endlich das Ende ankündigte. Denn das Beste kam nicht im Klassenzimmer. Das Beste begann draußen.

Der Heimweg – das war unsere Zeit. Meine Freundin Herta und ich gingen fast nie den direkten Weg. Wir nahmen immer den Umweg über die Felder. Im Sommer blühte dort der rote Mohn. Überall. Ein rotes Meer, hat mein Vater gesagt, und genau so sah es aus. Die Blüten leuchteten in der Sonne, als hätten sie eigenes Licht in sich. Wenn der Wind durchging, wogte alles sanft hin und her, als würde das Land selbst atmen.

Und dann dieser Geruch. Wenn das Korn gemäht wurde, lag etwas in der Luft, das man nicht beschreiben kann, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Staubig, warm, ein bisschen süß. Die Sonne stand hoch, und alles fühlte sich ruhig an, trotz der Arbeit auf den Feldern. Manchmal schließe ich heute noch die Augen, und plötzlich ist dieser Geruch wieder da. Dann bin ich für einen Moment wieder das Mädchen mit der Schultasche, barfuß im Herzen, frei für ein paar Stunden.

Wir haben uns zwischen den Halmen versteckt, uns ins Gras gesetzt und uns Geschichten erzählt. Von später, von Abenteuern, von Dingen, die wir uns damals ausgedacht haben. Wir haben gelacht, getuschelt, manchmal einfach nur dagestanden und geschaut. Die Zeit verging dabei immer viel zu schnell. Oft wurde es schon dunkel, wenn wir endlich nach Hause kamen, und dann gab es Ärger. Das Essen war kalt, und die Mütter nicht begeistert. Aber selbst das konnte die Erinnerung nicht trüben.

Die Schule selbst – nein, die war nicht schön. Aber der Weg nach Hause, der war es. Und wenn ich heute daran denke, dann merke ich: Nicht alles Gute passiert dort, wo man es erwartet. Manchmal liegt das Schönste genau zwischen Pflicht und Zuhause, auf einem staubigen Feldweg, umgeben von rotem Mohn und Sommerluft.